Inge Marx, verh. Stanton, 1930-2023
Verfasser: Manfred Brösamle-Lambrecht
Eine der letzten Zeitzeuginnen der NS-Zeit in Lichtenfels
Kurz nach ihrem 93. Geburtstag ist Inge Stanton im Februar 2023 in Sarasota/Florida verstorben. Mit ihr verlor Lichtenfels eine der letzten Zeitzeuginnen der Nazi-Diktatur in der Region.
Kindheit in Lichtenfels
1930 in Lichtenfels geboren, wuchs sie als Tochter des jüdischen Kaufmanns Alfred Marx und dessen Frau Ellen, geb. Bamberger, auf. Die Familie Marx betrieb ein Handelsgeschäft für Felle, Pelze und für Metzgereibedarf in der sog. Guthmann-Villa in der Bamberger Straße 19. Inge Stanton, die sich bis zuletzt ein glasklares moralisches Urteil bewahrt hatte, berichtete von schönen Aspekten ihrer Kindheit wie auch von zunehmender Diskriminierung und Übergriffen durch Nazi-Behörden und Nazi-Anhänger. Höhepunkt war der Überfall von NS-Horden auf das Familien-Anwesen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938:
„38 war die “Kristallnacht”, daran erinnere ich mich noch sehr, sehr deutlich, weil es eine besonders beängstigende Zeit war. Die Nazis brachen die Tür ein, kamen ins Haus und zerstörten alles, was sie finden konnten, jedes Stück Glas, alles Geschirr warfen sie durch die Fenster. Meine Mutter hatte einen wunderschönen Rosengarten, sie war eine Rosen-Person, und unser ganzes Geschirr und alles Zerbrechliche flog durch die Fenster und zerstörte ihren Rosegarten. Meine Schwester und ich gingen hoch in den dritten Stock, wo die Wohnung meiner Großmutter war. Wir hatten einen nicht-jüdischen Mieter in der anderen Hälfte, weil sie nicht den ganzen Stock brauchte. Sie waren sehr gütig und nett, sie ließen uns herein und versteckten uns im Dachboden. Ich war mit neun damals die Älteste, ich hatte viele kleine Cousins und es war meine Aufgabe, sie still zu halten. Als sie nach uns suchten, sagte der Mieter: „Oh, hier ist niemand“. Er war nicht jüdisch, alle Leute dort kannten ihn und wir haben es gut überstanden. Aber ich zucke immer noch jedes Mal zusammen, wenn irgendwo Glas zerbricht, ich höre, wie das ganze Glas in unserem Haus durch die Fenster geworfen wird. Jedes Fenster war zerbrochen, jedes Stück Glas im Haus. Durch die Fenster. Keine offenen Fenster. Durch die Fensterscheiben.“
Ein neues Leben in den USA
Es gelang der Familie 1939 aus Deutschland zunächst nach Großbritannien und im April 1940 in die USA zu fliehen, wo sie sich unter großen Mühen eine neue Existenz aufbauen konnten. Inges Eltern ließen sich im New Yorker Stadtteil Queens nieder. Inges Vater Alfred gründete eine eigene Firma für Häute- und Fellhandel und nutzte hierbei auch seine Kenntnisse und Kontakte nach Deutschland, speziell Lichtenfels.
Inge konnte studieren und wurde spezialisierte Lehrerin für Kinder mit Leseschwäche. Sie heiratete Erwin Stanton. Aus dieser Ehe gingen zwei Töchter hervor – Suzanne und Nancy.
Rückkehr nach Lichtenfels
Bereits 1994 mit ihrem Mann und 2016 mit ihrer Familie hatte Inge Lichtenfels besucht. Rachel Schlesinger, Inges Enkelin, drehte einen sehenswerten Kurzfilm über die Reise 2016, der unter https://vimeo.com/195914950 abrufbar ist.
Anlass für eine echte Heimkehr war dann das Projekt „13 Führerscheine“ des Meranier-Gymnasiums von 2018 in enger Zusammenarbeit mit dem Landkreis Lichtenfels. Unter den Dokumenten, die im Landratsamt gefunden worden waren, war auch der Führerschein von Inges Vater Alfred Marx. Die Schülerinnen machten die Familie in den USA ausfindig, und Inge Stanton half mit einer Fülle von Materialien und genauem Erinnerungsvermögen bereitwillig bei der Rekonstruktion der Familiengeschichte.
Im November 2018 kam sie, 88 Jahre alt, mit Familienmitgliedern zur Ausstellungseröffnung „13 Führerscheine. Dreizehn jüdische Schicksale“ und zur Verlegung von Stolpersteinen nach Lichtenfels. Sie hielt dort eine beeindruckende Rede, in der sie einerseits das Geschehene nicht relativierte und andererseits die Bereitschaft zu einem Miteinander angesichts eines gewandelten Deutschlands bekundete. Und sie praktizierte das auch: Die Verbindung, ja Freundschaft mit vielen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern riss bis zu ihrem Tode nicht ab.
Inge Stanton war eine beeindruckende Persönlichkeit, der Lichtenfels viel zu verdanken hat.