Auszug aus dem Brief von Walter S.G. Kohn vom 14. September 1993
Brief Walter S.G. Kohns vom 14. September 1993 zu seinen Erfahrungen in Lichtenfels während der NS-Zeit
[…] Die wenigen Menschen, die bis November 1938 in jüdische Läden gingen, die auf unsere Straßenseite kamen, um uns zu grüßen, waren damals Helden. Ich habe die Bemerkung des Stadtpfarrers Friedrich während meiner "Verweisung" aus der Realschule im Jahre 1936 wiederholt erwähnt (1). Im Käsegeschäft einen Leckerbissen zugesteckt zu bekommen, war eine Heldentat, ebenso der wöchentliche Besuch am Samstagabend durch den Bahnbeamten (an seinen genauen Titel kann ich mich nicht mehr erinnern) Kaemmerer und seine Tochter. Es gab eine Handvoll Lichtenfelser, bis zuletzt zu uns gehalten haben, nicht viele und nicht durch große Demonstrationen. Die getraute sich keiner mehr. Aber ein paar wenige Menschen ließen uns wissen, dass sie bei uns standen -- und viele, viele fielen ihrer eigenen Feigheit zum Opfer.
Herr Aumer saß im Bezirksamt und hatte die Pässe unter sich. Seine Frau war mit meiner Mutter zur Schule gegangen: Die Familien kannten sich gut. Zu einer Behörde gehen zu können, ohne angeschnauzt zu werden, war eine Seltenheit. Claude (Klaus) Bamberger hat beschrieben, wie Herr Aumer eines Abends zu seiner Mutter kam, um sie zu warnen, dass ihr Pass in einigen Tagen eingezogen werden würde, und ihr zu raten, so bald wie möglich zu verreisen. Ich wusste nicht, wohin ich ins Ausland gehen würde, also baten wir Herrn Aumer, den Reisepass für zwei Länder, England und Nordamerika, auszustellen. "Darf ich zwar nicht, man darf heute viel nicht", sagte er und tat es. All das waren kaum Heldentaten, aber solche kleinen Episoden taten äußerst wohl erleichterten das Leben sehr.
Was den Bezirksrichter Reck betrifft, so hielt er sich ans alte Recht, wo immer er konnte. Als der Staatsanwalt bei einer jüdischen Angeklagten deren Religion wissen wollte, sagte Herr Reck sofort, dass dies bisher nicht üblich sei. Sein spöttisches "No klor" als Bestätigung der Nazi-Änderungen ist in unserer Familie sprichwörtlich geworden. […]
14.September 1993
(1) Friedrich protestierte in der Lehrerkonferenz gegen den Beschluss, Walter von der Schule auszuschließen, weil Walter der Enkel eines der Schulgründer war.